BERLIN (dpa) – Steigende Besorgnis über die Auswirkungen einer möglichen russischen Gasabschaltung befeuert die Debatte in Deutschland darüber, ob das Land seine letzten drei Kernkraftwerke wie geplant Ende dieses Jahres abschalten soll.
Die Tür zu einer Art Erweiterung schien sich einen Spalt breit zu öffnen, nachdem das Wirtschaftsministerium Mitte Juli einen neuen „Stresstest“ zur Versorgungssicherheit angekündigt hatte. Es soll ein härteres Szenario berücksichtigen als ein früherer Test, der im Mai abgeschlossen wurde und bei dem die gefundenen Lieferungen sichergestellt waren.
Seitdem hat Russland die Erdgaslieferungen durch die Pipeline Nord Stream 1 nach Deutschland auf 20 % der Kapazität reduziert, inmitten der Spannungen im Zusammenhang mit dem Krieg in der Ukraine. Es nannte technische Probleme, die Deutschland als Vorwand für ein politisches Machtspiel bezeichnet. Auf Russland entfällt seit kurzem etwa ein Drittel der deutschen Gasversorgung, und es gibt Bedenken, dass es den Hahn ganz zudrehen könnte.
Der größte Oppositionsblock, die Union, hat immer häufiger Forderungen nach einer Verlängerung der Lebensdauer der Kernkraftwerke gestellt. Ähnliche Forderungen kommen von der kleinsten Partei in der Koalitionsregierung von Bundeskanzler Olaf Scholz, den wirtschaftsfreundlichen Freien Demokraten.
„Vieles spricht dafür, die sicheren und klimafreundlichen Atomkraftwerke nicht abzuschalten, sondern notfalls bis 2024 zu nutzen“, sagte FDP-Chef Finanzminister Christian Lindner der „Bild am Sonntag“. Er forderte den für Energie zuständigen Wirtschaftsminister Robert Habeck auf, die Nutzung von Gas zur Stromerzeugung einzustellen.
Forderungen nach einer Ausweitung der Nutzung der Atomkraft kommen den beiden anderen Regierungsparteien, den Sozialdemokraten von Scholz und vor allem den Umweltschützern von Habeck, unangenehm entgegen. Der Widerstand gegen Atomkraft ist ein Eckpfeiler der Identität der Grünen; eine sozialdemokratisch-grüne Regierung hat vor zwei Jahrzehnten den Atomausstieg Deutschlands auf den Weg gebracht.
Eine Regierung aus der Mitte-Rechts-Union der damaligen Bundeskanzlerin Angela Merkel und den Freien Demokraten legte 2011, kurz nach der Atomkatastrophe von Fukushima in Japan, die jetzige Form des Atomausstiegs fest. Es sieht vor, dass die drei noch in Betrieb befindlichen Reaktoren Ende Dezember vom Netz gehen.
Habeck argumentiert seit langem, dass der Betrieb dieser Reaktoren rechtlich und technisch komplex sei und wenig dazu beitragen würde, die durch einen Gasmangel verursachten Probleme zu lösen, und argumentierte, dass Erdgas weniger ein Faktor bei der Stromerzeugung als vielmehr bei der Befeuerung industrieller Prozesse und der Bereitstellung sei Heizung.
„Wir haben ein Heizungsproblem oder ein Industrieproblem, aber kein Stromproblem – zumindest nicht landesweit“, sagte er Anfang Juli.
Im ersten Quartal dieses Jahres entfielen 6 % der deutschen Stromerzeugung auf Kernkraftwerke und 13 % auf Gas. „Wir müssen daran arbeiten, dass zur Gaskrise nicht noch eine Stromkrise kommt“, sagte Lindner.
Einige Grüne haben in den letzten Tagen eine gewisse Offenheit signalisiert, einen oder mehrere Reaktoren kurzzeitig mit ihren vorhandenen Brennstäben weiterlaufen zu lassen, wenn das Land in einen Energienotstand gerät – allerdings nicht für eine längere Verlängerung.
Andere sind von der Idee nicht beeindruckt. Das „ist auch eine Laufzeitverlängerung“ für die Reaktoren, die eine Änderung des bestehenden Gesetzes erfordern würde, „und daran werden wir nichts ändern“, sagte der prominente grüne Abgeordnete Jürgen Trittin – Deutschlands Umweltminister bei der ersten Ausarbeitung des Atomausstiegs – Der Tagesspiegel vom Samstag.
Kritiker sagen, das reiche sowieso nicht. Oppositionsführer Friedrich Merz hat die Regierung aufgefordert, umgehend neue Brennstäbe für die verbleibenden Reaktoren zu bestellen. Der hochrangige Oppositionspolitiker Alexander Dobrindt forderte die Reaktivierung von drei bereits abgeschalteten Reaktoren und sagte der Zeitung „Welt am Sonntag“, dass „in dieser Situation Laufzeitverlängerungen der Kernenergie um mindestens fünf weitere Jahre denkbar sind“.
Und die Position von Scholz? Regierungssprecherin Christiane Hoffmann sagte vergangene Woche, er warte auf die Ergebnisse des „Stresstests“, die in den kommenden Wochen erwartet werden.
Die Regierung hat den Versorgungsunternehmen bereits grünes Licht gegeben, um 10 stillgelegte Kohlekraftwerke und sechs mit Öl betriebene Kraftwerke in Betrieb zu nehmen, und plant auch, den Weg für die Reaktivierung stillgelegter Braunkohlekraftwerke freizumachen. Weitere 11 Kohlekraftwerke, die im November abgeschaltet werden sollen, dürfen weiter betrieben werden.
Quelle: APNews