Titel: „Entsetzen über Freispruch – Italienisches Gericht bagatellisiert sexuelle Belästigung“
Stand: 13.07.2023 16:01 Uhr
Ein Hausmeister begrapschte eine Schülerin, sie erstattete Anzeige. Nun ist er in Rom freigesprochen worden – mit der Begründung, die Berührung habe nur fünf bis zehn Sekunden gedauert. Der Zorn darüber ist groß.
Der Zorn der Schülerinnen und Studentinnen verschafft sich vor der Schule Roberto Rossellini Luft. Ein gutes Dutzend ist gekommen, um hier gegen ein Urteil zu demonstrieren, das vor allem die Frauen in Italien auf die Palme bringt, so wie Studentin Carlotta: „Das ist der Spiegel einer Gesellschaft, die wir jeden Tag erleben müssen. Sie verdammt die Frauen dazu, als Opfer zu leben und selbst dann zu schweigen, wenn man belästigt wird, aus Angst, dass einem selbst die Schuld gegeben wird.“
Um den Zorn von Carlotta und ihren Mitstreiterinnen zu verstehen, muss man in den April 2022 zurückblicken. Der Schauplatz: die Schule Roberto Rossellini. Eine damals 17-jährige Schülerin geht mit einer Freundin ins Klassenzimmer und spürt, wie ihr von hinten jemand in die Unterhose greift und ihr Gesäß begrapscht. Es ist der Hausmeister der Schule. Die junge Frau bringt den Fall zur Anzeige.
Nun hat ein Gericht in Rom geurteilt: Da die Berührung nur zwischen fünf und zehn Sekunden gedauert habe, sei der Straftatbestand einer sexuellen Belästigung nicht erfüllt. Für Elisa Ercoli, Präsidentin der Frauenrechtsorganisation „Differenza Donne“ ist dieses Urteil Ausdruck einer Kultur, die die Gewalt gegen Frauen bagatellisiert.
„Es ist in jeder Hinsicht Belästigung. Denn auch der Richter hat bestätigt, dass es diese Verletzung der Intimsphäre der Frau gab. Wir verstehen diese Rechtsauslegung nicht, wir widersprechen ihr“, so Ercoli.
Das Gericht sieht den Übergriff tatsächlich als erwiesen an, es handele sich allerdings um „unbeholfenes Verhalten ohne sexuelles Motiv“ seitens des Angeklagten. Er selbst sprach von einem „Scherz ohne böse Absicht“.
In Italien ist sexuelle Belästigung ein Straftatbestand. Dabei wird nicht spezifiziert, wie lange die Belästigung dauern muss, um als solche anerkannt zu werden. Dass ein Gericht in Rom nun eine Mindestdauer von zehn Sekunden definiert, schreit förmlich nach kreativem Protest.
Zum Beispiel das Video eines jungen Pärchens auf Instagram: Er greift ihr an den Po. Sie sagt: „Du Grapscher, ich zeige dich an.“ Er, mit einem Blick auf die Uhr: „Ich habe noch neun Sekunden.“ Sie antwortet: „Ah, entschuldige, du hast Recht, unter zehn Sekunden ist es kein Verbrechen.“
Der Schauspieler und Schriftsteller Paolo Camilli macht den Hashtag „10secondi“ populär. Prominente solidarisieren sich mit der jungen Frau, indem sie sich in Videos selbst begrapschen und dabei die Stoppuhr laufen lassen. Zehn Sekunden sind verdammt lang.
Der Freispruch hat zur Folge, dass der Hausmeister wieder in seiner alten Schule Roberto Rossellini arbeiten kann. Die Staatsanwaltschaft hatte dreieinhalb Jahre Haft gefordert. Die junge Frau will offenbar Berufung gegen das Urteil einlegen. Laut ihrem Verteidiger will sie nicht hinnehmen, dass eine solche Tat nicht wie ein Verbrechen geahndet wird.