Rückkehr zum Leistungsprinzip oder stärkere Diskriminierung? Das Oberste US-Gericht hat den leichteren Zugang zu Elite-Universitäten für Minderheiten für verfassungswidrig erklärt. Die Reaktionen fallen unterschiedlich aus.
Calvin Yang, Sohn chinesischer Einwanderer aus New York, steht in einem Konferenzraum einen guten Kilometer vom Supreme Court entfernt und freut sich. Dass der Oberste Gerichtshof der USA die Aufnahmepraxis der Elite-Unis Harvard und der University of North Carolina jetzt für verfassungswidrig erklärt hat, empfindet der Student nicht nur als späte Genugtuung: „Es bedeutet einen Neuanfang, die Wiederauferstehung der Prinzipien des amerikanischen Traums.“
Yang wollte nach Harvard – und wurde trotz Bestnoten und beeindruckender Vita nicht genommen. Stattdessen gehört er nun zu den über 20.000 Studierenden, die mit Hilfe der Organisation „Students for Fair Admissions“ gegen das aus ihrer Sicht diskriminierende System geklagt haben. Zwar gibt es in Harvard mehr als doppelt so viele asiatische wie schwarze Studenten. Aber es könnten noch viel mehr sein, glauben Yang und seine Mitkläger. Wenn Afro-Amerikaner mit schlechteren Leistungen nicht bevorzugt würden.
So sieht es auch die konservative Mehrheit des Supreme Court: „Der Student muss auf der Basis seiner oder ihrer Erfahrungen als Individuum behandelt werden – und nicht auf der Basis seiner Rasse. Viel zu lange haben Universitäten das genaue Gegenteil gemacht“, so der Vorsitzende Richter John Roberts in der insgesamt über 200 Seiten langen Urteilsbegründung.
Aber Roberts erklärte auch: Das Urteil bedeute keinesfalls, dass Hochschulen nicht auch künftig darauf schauen dürfen, wie Hautfarbe und Herkunft das Leben der Bewerber beeinflusst hat – „ob in Form von Diskriminierung, Inspiration oder anderweitig“, so der Richter.
Eine umstrittene Rechtsinterpretation – auch innerhalb des höchsten Gerichts. Clarence Thomas, selbst Afro-Amerikaner, schrieb die Verfassung sei farbenblind – und ein Studienplatz dank der sogenannten „Affirmative Action“ für schwarze Studierende ein „Abzeichen der Minderwertigkeit“.
Seine ebenfalls schwarze Kollegin Ketanji Brown Jackson widersprach heftig, genau wie die anderen beiden liberalen Richter: Ihre konservativen Kollegen seien realitätsfremd und selbstvergessen, die strukturelle Benachteiligung der Afro-Amerikaner in allen Bereichen nach wie vor nicht überwunden. Und das werde jetzt nur noch länger dauern.
Ähnlich polarisiert sind auch die politischen Reaktionen: Ex-Präsident Donald Trump etwa jubelte in einer Stellungnahme, dies sei ein wunderbarer Tag für Amerika, weil das Urteil eine Rückkehr zur Leistungsgesellschaft betone.
Sein Nachfolger Joe Biden dagegen erklärte, das Gericht habe de facto die eigene jahrzehntelange Rechtsprechung aufgehoben. „Damit bin ich nicht einverstanden!“, so der US-Präsident.
Aber der Demokrat räumte indirekt auch die Schwächen des bisherigen Systems ein, indem er gleich dreimal betonte: „Diskriminierung existiert immer noch in den USA. Und daran ändert auch dieses Urteil nichts.“
Die Kinder aus dem einen Prozent der reichsten Familien in den USA hätten eine 77 Mal höhere Chance auf eine Elite-Uni zu kommen als jene aus einkommensschwachen Familien, so Biden. Sie würden vom System profitieren, Arbeiterfamilien dagegen nicht. Nötig sei jetzt ein System, das für alle funktioniere.
Experten wie Richard Kahlenberg, selbst Harvard-Absolvent, glauben, dass die Entscheidung des Supreme Court letztendlich für ein gerechteres und diverseres System Sorgen könnte. Weil statt Hautfarbe künftig der soziökonomische Status eine entscheidende Rolle spielen werde, so Kahlenberg bei CNN.
Calvin Yang, der Kläger, studiert inzwischen übrigens in Berkeley, in Kalifornien. Dort wurde die Regel schon in den 1990er Jahren abgeschafft. Die Hälfte der Studienanfänger stammt dort aus Asien. Und nur vier Prozent sind schwarz.